Die Konzertreihe IMPROVISATIONEN feiert 20. Geburtstag

 

Der Blick aufs Kleine zur Entschlüsselung des Großen


Unter diesem musikgeschichtlichen Ballast betrachtet, ist die Reihe IMPROVISATIONEN der Musikerinitiative Bremen (MIB) mit ihren zwanzig Jahren noch ziemlich jung. Die Bremer Reihe wurde 13. März 1990 aus der Taufe gehoben, und zwar im Keller des Naturfreundehauses in der Buchtstraße, mit dem Umzug der MIB in die Kellerräume unter der Städtischen Galerie im Buntentor zogen auch die IMPROVISATIONEN dorthin um. In jüngster Zeit verfolgt die Reihe allerdings ein offenes Spielstätten-Konzept, breitet sich, wenn man so will, über das Stadtgebiet Bremens aus.



Voraussetzungen: Was vorher geschah…


Als die Reihe IMPROVISATIONEN 1990 gegründet wurde, traf sie in Bremen nicht etwa auf ein verödetes Niemandsland. Das Feld von Free Jazz und Freier Improvisation war zuvor schon beackert worden, wenn auch nicht in derartig kontinuierlicher Weise, wie es die IMPROVISATIONEN nun seit 20 Jahren leisten. Die Jazzredaktion von Radio Bremen – damals finanziell noch so ausgestattet, dass dies möglich war – hatte, oftmals in Kooperation mit der Reihe „Forum junge Musik“, über lange Zeit erhebliche Vorarbeiten geleistet, einerseits durch Studioproduktionen im Sendesaal, andererseits durch Mitschnitte, von denen einige Furore machten. Um gleich mit einem Paukenschlag zu beginnen: Im Mai 1968 wurde in der Lila Eule die Aufnahmen für eben jene legendäre „Machine Gun“-LP gemacht, bei der Peter Brötzmann mit einem Oktett auftrat, das in der Besetzung durchaus ähnlich dem Ornette Coleman Oktett von „Free Jazz“ war.

Ebenfalls in der Lila Eule war 1971 und 1973 Chris McGregor’s Brotherhood of Breath zu erleben. Die zwölfköpfige Band aus ins britische Exil geflohenen Südafrikanern und europäischen Jazzern verband freies Spiel mit Ausflügen in süffige südafrikanische Melodien und Rhythmen. Für nicht wenige europäische Musiker, darunter die Pianistin Irène Schweizer, ist Brotherhood of Breath zu jener Zeit ein regelrechter Augen- und Ohrenöffner gewesen.

Es erscheint unmöglich alle Gruppen und Musiker an dieser Stelle aufzuführen, denn das würde Seiten füllen, deshalb sollen nur einige exemplarisch genannt werden: 1971 gastierte in dem damals noch riesigen Kino Gondel die wegweisende britische Band Soft Machine, deren Impulsgeber Elton Dean und Hugh Hopper in den folgenden Jahren noch einige Male in unterschiedlichen Konstellationen in Bremen zu Gast waren. Ähnliches gilt auch für das Willem Breuker Kollektief sowie das legendäre Brötzmann Trio mit Fred van Hove und Han Bennink, das sich vor seinem Auftritt in der Uni Mensa im Jahr 1976 so sehr zerstritten hatte, dass es gar nicht antrat. In eben dieser Uni Mensa war 1979 mit dem Art Ensemble of Chicago auch die berühmteste Band des AACM zu erleben.

Zu Beginn der achtziger Jahre organisierte der Bremer Kontrabassist Torsten Müller einige Konzerte mit Frei Improvisierter Musik im Überseemuseum, bei denen Musiker wie der britische Posaunist Alan Tomlinson, Müller selbst, aber auch der niederländische Pianist Guus Janssen zu erleben waren. Später wählte Müller als Spielort das Café Grün. In den kleinen Caféraum lockte er zwischen 1982 und 1984 eine beeindruckende Auswahl von Improvisatoren und Free-Jazz-Aktivisten: Sven-Åke Johansson, Alexander von Schlippenbach, ROVA Saxophone Quartet, John Russell, Arto Lindsay und John Zorn, Evan Parker, Steve Beresford, David Toop und Marilyn Crispell, Skeleton Crew und Sänger wie David Moss und Phil Minton. Nach Streit wegen der Lautstärke mit einem Nachbarn musste die Reihe beendet werden – eine Erfahrung, die die Reihe IMPROVISATIONEN im Jahr 2008, als sie das Café Grün als Spielstätte wieder beleben wollte, ebenfalls machte.

Beinahe nahtlos an die Konzerte im Café Grün anknüpfend, nahm 1985 die Konzertreihe Dacapo ihre Arbeit auf, die bis ins Jahr 2001 andauerte. Das Konzertangebot war hier allerdings vielschichtig gestreut, umfasste Klassik, Neue Musik, Folklore, Weltmusik und Jazz, aber eben auch Freie Musik, wobei immer wieder ein angelegentlicher Blick auf die Bremer Szene geworfen wurde. So war in den Weserterrassen, dem anfänglichen Spielort von Dacapo, das Ensemble Raum 19, die Großformation des Bremer Gitarristen Peter Apel, zu erleben, aber auch experimentelle Projekte von Hainer Wörmann und Reinhard Schiemann. Daneben traten hier aber auch zahlreiche nationale und internationale Gäste aus dem Free- und Improvisationsbereich auf von Archie Shepp über Urs Leimgruber, Harry Beckett, Simon Nabatov, Aki Takase, Myra Melford, Shelley Hirsch, Lauren Newton, Radu Malfatti, Phil Wachsmann, Phil Minton, Ernst Reijseger, Kölner Saxophon Mafia bis zum Willem Breuker Kollektief und dem Maarten Altena Ensemble.

Parallel dazu interessierten sich Radio Bremen Musikredaktionen der Bereiche Jazz und Neue Musik für die Freie Musik. Die Jazzredaktion gab (zunächst vor allen Dingen in der Schauburg) Einblicke in die aktuellen Entwicklungen in den USA mit Festivals (New Generation Festival im Jahr 1988, das die New Yorker Downtown-Szene um Musiker wie John Zorn, Bill Frisell und Wayne Horvitz vorstellte, oder dem Knitting Factory-Paket im Jahr 1990) und Einzelkonzerten (ROVA Saxophone Quartet, 1983, Ned Rothenberg, 1984, McCoy Tyner, 1985, King Übü Orchestrü, Tippett-Nichols-Tippett, beide 1987, sowie diversen Konzerten zu den damals aktuellen Free Funk/No Wave-Bands von Ronald „Shannon“ Jackson und James „Blood“ Ulmer zwischen 1986 und 1990, Peter Kowald & Sainkho Namchylak, 1992). Radio Bremens Neue Musik Festival pro musica nova stellte 1986 mit Diamanda Galas eine avancierte Vokalistin vor, und widmete sich vier Jahre später erneut der weiblichen Stimme, wobei mit Greetje Bijma und Jeanne Lee auch zwei vokale Avantgardistinnen vertreten waren. Bei der pro musica nova 1998 waren Joëlle Léandre, Fred Frith sowie das „at work“-Projekt mit den Briten John Butcher, Nick Couldry, den Bremern Uli Sobotta und Hainer Wörmann in einem Raumkonzept von Anne Schlöpke zu erleben. Zwei Jahre später waren Improvisatoren wie Melvyn Poore, Claus van Bebber und Paul Hubweber beteiligt und im Rahmen des Minifestivals „Saitensprünge“ traten 1999 Musiker wie Keith Rowe, Joëlle Léandre und das Ensemble Sondarc mit seinen sechs Kontrabässen auf.
Das Interesse von Radio Bremens Jazzredaktion und jener für Neue Musik an Freier Musik dauert bis heute an, wenn es auch angesichts knapper gewordener Finanzen weniger Konzerte insgesamt sind.



Eine Reihe hat sich durchgebissen


Als die letzten der gerade angeführten Konzerte stattfanden, gab es die Reihe IMPROVISATIONEN schon längst. Sie hatte 1990 ihre Arbeit aufgenommen und zwar mit dem Ziel Freie Musik zu fördern, sie aber auch mit anderen Künsten zu konfrontieren. Im Untertitel heißt es nämlich „Reihe für Freie Improvisierte Musik und andere Künste“, und dieses „andere Künste“ wurde fast von Beginn an ernst genommen, was nicht bedeutet, dass permanent mit anderen Künsten kooperiert wurde, aber eben doch gelegentlich und mit Nachdruck. Schon seit langem arbeiten die IMPROVISATIONEN immer mal wieder mit der Videokünstlerin Monika B. Beyer zusammen, der Wuppertaler Lautpoet Mitch Hinrich war ebenso Gast wie der britische Filmemacher David Larcher, die bildende Künstlerin Anne Schlöpke oder die Tänzerin Fine Kwiatkowski.

„Kooperation“ ist ohnehin das Zauberwort, dem sich die Reihe verschrieben hat, so wurde in den bisher 132 Konzerten – zu denen sich noch diverse nicht mitgezählte Auftritte bei den MIB-Festivals sowie die eigenen A Cute Music-Festivals gesellen – überwiegend nach dem Prinzip verfahren, die eingeladenen Musiker zunächst mit eigenen Sets vorzustellen, sie aber anschließend auf Bremer Improvisatoren treffen zu lassen. Dieser Werkstattcharakter der Konzerte bietet allerhand Vorteile. Zum einen schult es beide beteiligten Seiten eminent, zum zweiten schafft es intimere Kontakte, als sie durch eine bloße Einladung zum Konzert zu erzielen wären, was, drittens, zur Bildung eines Netzwerkes führt, das gerade in der Freien (und durchaus nicht begüterten) Szene von überlebenswichtiger Bedeutung ist.

Der Autor dieses Textes hat schon vor zehn Jahren (damals zum 10. Geburtstag) geschrieben: „Die IMPROVISATIONEN sind in jeder Hinsicht klein: Kleiner Etat, kleiner Saal, kleines Organisatoren-Team, überschaubares Publikum. Umso erstaunlicher ist, was die Reihe in diesen zehn Jahren geleistet hat: Zum einen hat sie einige der großen, hinlänglich bekannten, improvisierenden Musiker wie Gunter Hampel, Steve Lacy, Hans Reichel, Roger Turner in die Stadt gelockt, zum anderen waren hier entschiedene Entdeckungen zu machen. Um auch nur einige Namen zu nennen: der Plattenspieler-Spieler Claus van Bebber, der verblüffende Trompeten- und Schlauchbläser Rajesh Metha oder das hervorragende Duo Gottschalk & Jacquemyn.“

Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die angegebenen hinlänglich bekannten Musikernamen ließen sich noch um einige wie Keith Rowe, Lol Coxhill, Erhard Hirt, Phil Minton sowie Evan Parker und Urs Leimgruber ergänzen. Vom Auftritt der beiden Letztgenannten gemeinsam mit den vier Bremer Improvisatoren von BIQ wurde übrigens gerade eben der Live-Mitschnitt aus dem Sendesaal Bremen als CD unter dem Titel „Striking a Blow“ beim Label Nurnichtnur veröffentlicht. Ebenso waren in den vergangenen zehn Jahren – wie in den zehn Jahren davor – erneut wieder Entdeckungen zu machen, von denen exemplarisch hier nur die Hamburger Tänzerin Mizuki Wildenhahn, der New Yorker Perkussionist Jeff Arnal, die koreanische Sängerin Ge-Suk Yeo oder der niederländische Sprachartist Jaap Blonk genannt werden sollen. Nicht zuletzt existiert seit längerem besagte Bremer Improvisatoren Band BIQ, zu der Nils Gerold, Flöte, Reinhart Hammerschmidt, Kontrabass, Hainer Wörmann, Gitarre und Uli Sobotta, Euphonium gehören, die zugleich auch die Kuratoren und Organisatoren der Reihe IMPROVISATIONEN sind. Mit der vor zwei Jahren gegründeten Formation KLANK ist ein weiterer hochinteressanter Baustein der Freien Musik entstanden. Die Gruppe KLANK, zu der neben Hainer Wörmann und Reinhart Hammerschmidt noch der Geiger Christoph Ogiermann und der Perkussionist Tim Schomacker gehören, sitzt entschieden zwischen den Stühlen von Freier Musik, Aktion und E-Avantgarde, was nicht zuletzt ihr Großprojekt „Großes Lernen“ (nach Cornelius Cardews „Great Learning“) gemeinsam mit Schulklassen und der Band Lauter Blech im Jahr 2009 unterstreicht. Hier darf man vielleicht doch ganz sachte Derek Bailey widersprechen, der meinte: „Freie Improvisation […] leidet unter – oder erfreut sich – der unscharfen Identität, die ihre vielfache Benennung mit sich bringt. Zwei regelmäßige Irrtümer, die ihre Identifikation erschweren, sind die Verbindung mit experimenteller oder Avantgarde-Musik.“ Derek Baileys Sätze sind übrigens auch mittlerweile dreißig Jahre alt, in der Zwischenzeit hat sich einiges getan, vielleicht sind nun auch die Grenzen zwischen Freier Improvisation und E-Musik-Avantgarde fließender geworden, müssen nicht mehr so intensiv von den jeweiligen Seiten verteidigt werden. Ein Fortschritt, was auch immer man unter dem Begriff verstehen mag, wäre das immerhin.


Christian Emigholz, im Juni 2010